Offener Brief an den G-BA: Bündnis gegen Kassenzulassung des Vorgeburtlichen Bluttest auf Trisomien (NIPT)
Appell an Vorsitzenden Josef Hecken: Entscheidung zum NIPT an den Bundestag überantworten
Ein breites zivilgesellschaftliches Bündnis fordert den Vorsitzenden des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA), Prof. Josef Hecken, in einem Offenen Brief auf, den Beschluss über die Kassenzulassung des ersten vorgeburtlichen Bluttests auf eine Behinderung zurückzustellen.
Der vorgeburtliche Bluttest auf Trisomien (NIPT) produziere hohe Raten falsch-positiver Ergebnisse. Er würde deshalb die Schwangerschaftsvorsorge nicht verbessern, sondern im Gegenteil bei Schwangeren große Beunruhigung hervorrufen.
Zudem sei in dem absehbaren Beschluss keine wirksame Eingrenzung des kassenfinanzierten Tests auf spezifische Risikoschwangerschaften vorgesehen. Vielmehr mache die vorgesehene Indikation den Test für fast jede Schwangere auf Kassenleistung zugänglich. Ergebnis werde entgegen der Äußerungen von Politiker:innen aller Bundestagsfraktionen ein weitreichendes vorgeburtliches Screening von Kindern mit Trisomien sein.
Mit der geplanten Kassenzulassung des NIPT würden Fakten für eine breite vorgeburtliche Selektion von Kindern mit Behinderung geschaffen, ohne dass dies zuvor gesetzgeberisch durch den Bundestag legitimiert worden ist.
Zu den Unterzeichner:innen des Offenen Briefes gehören Elternvereine, die Bundesvereinigung Lebenshilfe, Selbstvertretungen behinderter Menschen, Beratende zu Fragen der Pränataldiagnostik, Mediziner:innen sowie evangelische Organisationen.
Offener Brief
Gemeinsamer Bundesausschuss
Prof. Josef Hecken
05.02.2021
Sehr geehrter Herr Prof. Hecken,
der G-BA steht in diesen Tagen vor dem letzten Schritt im Verfahren zur Kassenzulassung des nichtinvasiven Pränataltests NIPT für die Trisomien 13, 18 und 21. Mit der Vorlage der Versicherteninformation liegen seit Beginn des Jahres alle formalen Voraussetzungen vor.
Dennoch fordern wir Sie eindringlich auf, den Beschluss zurückzustellen.
Wir fordern dies einerseits, weil im Bewertungsverfahren entscheidende Widersprüche verbleiben, vor allem bezüglich der Aussagekraft des Tests und bezüglich der Eingrenzung seines Einsatzes auf Schwangere in besonderen Problemsituationen.
Wir fordern dies außerdem, weil die ethischen und gesellschaftspolitischen Fragen einer Kassenfinanzierung des NIPT bis heute von der Politik nicht zureichend behandelt und nicht entschieden sind.
Sie selbst haben im gesamten Bewertungsverfahren wiederholt bekräftigt, es gehe bei der Kassenzulassung
„…ausdrücklich um die Anwendung des Tests bei Schwangerschaften mit besonderen Risiken. Damit sollen die aktuell verfügbaren Testverfahren – das sind Eingriffe, die mit großen Risiken für das ungeborene Kind verbunden sind – so weit wie möglich ersetzt werden. Es geht nicht etwa um eine Reihenuntersuchung aller Schwangeren“, zitiert aus Ihrer Pressemitteilung vom 22. März 2019.
Die aktuelle Beschlussfassung des G-BA steht jedoch in eklatantem Widerspruch zu Ihrer eigenen Argumentation:
- die darin formulierte Indikation für eine Kassenfinanzierung des NIPT ist nicht klar geregelt, mit der Folge, dass der Test nicht nur für konkrete Ausnahmefälle, sondern im Grunde allen Schwangeren zur Verfügung stehen wird,
- die Versicherteninformation, die nach den Regularien des G-BA der neutralen Information der Schwangeren dienen soll, wird laut einer Untersuchung des IQWiG nicht als neutral verstanden, sondern als Empfehlung für den Test im Rahmen der Vorsorge,
- die Schwächen der Methode werden nicht klar benannt, mit der Folge, dass Schwangere fälschlicherweise eine sichere Diagnose erwarten,
- die zentrale Zielsetzung des gesamten Verfahrens – einen Großteil der invasiven Untersuchungen in der Schwangerschaft zu verhindern – ist durch die Kassenzulassung des NIPT nicht zu erreichen.
Zur Verdeutlichung möchten wir hier auf wesentliche Punkte näher eingehen:
1. Keine Begrenzung des Einsatzes
Der G-BA hat die Indikation für die Inanspruchnahme des NIPT so schwammig formuliert, dass in der Praxis eine Dehnung der Regelung in Richtung einer Reihenuntersuchung von Schwangeren möglich und realistisch zu erwarten ist. In der neuen Version der Mutterschafts-Richtlinien (Mu-RL) heißt es wörtlich:
„Sofern ein entsprechender Test geboten ist, um der Schwangeren eine Auseinandersetzung mit ihrer individuellen Situation hinsichtlich des Vorliegens einer Trisomie im Rahmen der ärztlichen Begleitung zu ermöglichen.“
Damit kann der Test jeder Schwangeren als Kassenleistung zugänglich gemacht werden, der einmal der Gedanke an eine mögliche Trisomie des ungeborenen Kindes durch den Kopf gegangen ist – also praktisch allen. Es ist nicht realistisch anzunehmen, dass Ärzt:innen die Zeit haben, Schwangere gut zu beraten, wenn sie mit dem bereits feststehenden Wunsch nach möglichst umfangreicher Diagnostik in die Praxis kommen oder wenn sie aus naheliegenden Gründen die Tatsache der Kassenfinanzierung des Tests als Empfehlung verstanden haben.
Tatsächlich hat sogar das IQWiG in seinem Abschlussbericht zur Versicherteninformation dargestellt, dass 30 Prozent der Probeleser:innen die nun vorliegende Versicherteninformation als Empfehlung verstehen, den Test in Anspruch zu nehmen. Dies unterstreicht unsere Befürchtung ebenso wie die Befürchtung der medizinischen Berufsverbände, dass eine Kassenfinanzierung des NIPT den sozialen Erwartungsdruck verstärken wird, ihn auch zu nutzen.
2. Keine Warnung vor falschen Testergebnissen
In allen Phasen des Bewertungsverfahrens wurde versäumt klar zu benennen, dass der NIPT kein gesichertes Diagnoseverfahren ist. Er ist ein Suchtest, der lediglich mit hoher Wahrscheinlichkeit vorhersagt, ob eine Trisomie vorliegt oder nicht.
Dabei kommt es – insbesondere bei jüngeren Frauen und bei den Trisomien 13 und 18 – statistisch zwingend zu einer hohen Anzahl falsch-positiver Testergebnisse. Bei einer 30jährigen Schwangeren beispielsweise liegt die statistische Wahrscheinlichkeit bei fast 40 Prozent, dass ein auffälliges Testergebnis für eine Trisomie 21 falsch ist und das Kind gar keine Trisomie 21 hat. Bei einem auffälligen Testergebnis zu Trisomie 18 hat sie sogar eine statistische Wahrscheinlichkeit von nahezu 80 Prozent, dass das Ergebnis nicht korrekt ist.
3. Kein Ersatz für invasive Diagnostik
Gerade weil das hohe Risiko des NIPT für falsche Testergebnisse in Fachkreisen bekannt ist, ist in den medizinischen Leitlinien bereits klar geregelt, dass aus medizinischer Sicht jedes auffällige positive Testergebnis aus einem NIPT durch eine invasive Untersuchung abgeklärt werden muss. Der NIPT ersetzt also die Fruchtwasseruntersuchung nicht grundsätzlich. Damit ist das zentrale Argument des G-BA für eine Kassenzulassung sachlich falsch.
Berufsverbände befürchten überdies, dass Schwangere nach einem auffälligen Testergebnis in der frühen Schwangerschaft in Panik geraten und eine Abtreibung innerhalb der 12-Wochen-Frist durchführen lassen, ohne die medizinisch gebotene Abklärung durch eine Fruchtwasseruntersuchung abzuwarten.
Zusammenfassend ist schon aus medizinischer Sicht ein Beschluss des G-BA für eine Kassenzulassung des NIPT nicht verantwortbar, schon gar nicht auf Grundlage der vorliegenden derart widersprüchlichen Argumente und wissenschaftlich unhaltbaren Aussagen.
Dazu kommt, dass ein Beschluss zur Kassenzulassung des NIPT mit seinen absehbar weitreichenden gesellschaftlichen Auswirkungen vom G-BA nicht verantwortet werden kann, solange die ethischen und gesellschaftlichen Fragen nicht ernsthaft politisch diskutiert und vom Gesetzgeber entschieden worden sind. Diesem demokratisch notwendigen Prozess vorzugreifen und damit Fakten zu schaffen, überschreitet die Kompetenzen des G-BA bei weitem.
Sie selbst haben dies bereits am 4. November 2019 im Tagesspiegel problematisiert:
„Wir prüfen technisch-medizinisch Verfahren und Methoden, können aber nicht fundamentale gesellschaftspolitische Grundfragen entscheiden. Als der Hersteller die Bewertung des Tests für die Kassenerstattung beantragte, habe ich den Gesundheitsausschuss umgehend gebeten, sich mit den damit verbundenen ethischen Fragen zu befassen. Das hat er dann in Form einer orientierenden Debatte auch getan – aber dabei ist es bis jetzt geblieben.“
Wir fordern Sie als Vorsitzenden des Gemeinsamen Bundesausschusses deshalb auf, die einzig mögliche Konsequenz zu ziehen: Weisen Sie entschieden auf die Grenzen Ihres Kompetenzbereichs hin und nehmen Sie von der Beschlussfassung über die Kassenzulassung des NIPT Abstand. Geben Sie die Diskussion und Entscheidung über die gesellschaftlich gewünschten Grenzen der Pränataldiagnostik zurück an den Deutschen Bundestag.
Erstunterzeichner:innen:
BioSkop e.V.
BM 3X21 – Down-Syndrom-Elterninitiative für den Raum Bergheim / Kerpen / Pulheim
Bundesverband evangelische Behindertenhilfe e.V. (BeB)
Bundesvereinigung Lebenshilfe e.V.
bvkm – Bundesverband für körper- und mehrfachbehinderte Menschen e.V.
Cara – Beratungsstelle zu Schwangerschaft und Pränataldiagnostik
Deutsches Down-Syndrom InfoCenter
Diakonisches Werk der evangelischen Kirche in Württemberg e.V.
inclution – inclusive solutions
Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland e.V. – ISL
Raúl Krauthausen, Behindertenrechts-Aktivist
Leben mit Behinderung Hamburg Elternverein e.V.
Netzwerk gegen Selektion durch Pränataldiagnostik
Prof. Dr. Alexander Scharf, Pränataldiagnostiker / Mainz
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Dann schreiben Sie eine Mail an info(at)mittendrin-koeln.de, alle mitzeichnenden Organisationen/Personen werden hier fortlaufend ergänzt.