Ist "die Inklusion" für Gymnasien "geeignet"? - Eine Sonntagsfrage?

9 Jahre nach Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) in Deutschland ist der Diskurs über das Wie? der Umsetzung im deutschen Bildungssystem immer noch nicht in der breiten Öffentlichkeit angekommen.

Am 5. Mai wird der jährliche Europäischen Protesttag zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung begangen – nicht ohne Grund. Lange wurden Menschen mit Behinderung ausschließlich in Sondereinrichtungen wegsortiert. Sie gingen in Sonderschulen, sie wohnten in Sondereinrichtungen, sie wurden in eigens für sie eingerichteten Werkstätten beschäftigt. Das öffentliche Bild war eines von an seiner Behinderung leidendem Menschen, der nichts leisten kann, letztlich ein Fall für die Sozialsysteme ist (durfte nur 2600 € sparen) und daher in der allgemeinen Gesellschaft nicht oder nur sehr unvorteilhaft vorkam.

Mittlerweile melden sich Menschen mit Behinderungen selbstbewusst zu Wort: Es gibt einen Raul Krauthausen, es gibt eine Carina Kühne, es gibt einen Pablo Pineda und und und. Nicht zu vergessen, es gibt eine Theresia Degener, eine deutsche Juristin und Professorin für Recht und Verwaltung an der Evangelischen Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe in Bochum, die maßgeblich an der Ausarbeitung der UN-Behindertenrechtskonvention beteiligt war. Es gibt also Rollenvorbilder.

Allen ihnen gemeinsam ist, dass sie das Glück hatten, in ihrer Schulzeit Regelschulen besucht zu haben u/ o einen absolut unterstützenden Background zu haben.

Es gibt also schon länger Regelschulen, die sich auf den Weg gemacht haben, einen inklusiven, hochwertigen Unterricht für alle Lernenden umzusetzen – wie es die UN-BRK vorsieht. Und dies tun sie unter den gleichen Rahmenbedingungen, denen alle deutsche Schulen unterliegen. Darunter sind auch Gymnasien, wie das Gymnasium Springe in Niedersachsen oder das Geschwister-Scholl-Gymnasium in Pulheim/ NRW, das unlängst den „Jacob-Muth-Preis für inklusive Schule“ gewann.

Um den Sinn von Inklusion, bisher nicht in die Gesellschaft einbezogener Gruppen, z. B. der „Menschen mit Behinderung“, zu verstehen, braucht es aber vor allem positive Rollenbilder und die Verbreitung dieser.

Es benötigt also differenzierte Information und – je nach Beruf – auch die Befähigung zur Umsetzung von inklusivem Unterricht. Dass die meisten heutigen Lehrer nach 9 Jahren geltender UN-BRK nicht in inklusiver Pädagogik ausgebildet sind, ist eindeutig das Ergebnis politischer Fehlsteuerung.

Natürlich sind für die Umsetzung inklusiver Schulbildung auch ausreichende Anzahl an Personal, Räumen sowie kleine Klassen wichtig und dies zu fordern, berechtigt. Aber wo ist das hierzulande mit einem unterfinanzierten Schulsystem und schulischer Kleinstaaterei zu bekommen? In diesem Zusammenhang wirkt die Bedingungen stellende Bremer Gymnasial-Rektorin etwas aus der Zeit gefallen und, besonders gegenüber den anderen Bremer Schulen wenig kollegial.

Gerade Im Kontext des langen Zeitraumes, in dem an diesem Gymnasium scheinbar noch nicht einmal Fortbildungen für inklusiven Unterricht erfolgt sind (eine ihrer Forderungen bezog sich auf eine Fortbildung des Kollegiums), fragt sich, ob das Stellen von Bedingungen nur dem Zweck dienen soll, sich weiter eher um exotische Dinge wie das französische Baccalaureat zu kümmern, als sich der gemeinsamen Verantwortung aller Schulformen zu stellen, eine einbeziehende und befähigende Pädagogik umzusetzen.

Jede Schulform mag ihre spezifischen Herausforderungen haben. Aber gerade am Gymnasium gibt es inklusionsförderliche Bedingungen, die es sogar als bevorzugten inklusiven Lernort prädestinieren: Man geht davon aus, dass an Gymnasien die intelligentesten bzw. sozial ausgewähltesten Kinder lernen. Auch geht man davon aus, dass dort die am besten ausgebildeten Lehrer unterrichten. Die Schüler-Lehrer-Relation ist besonders günstig.

Am Gymnasium werden auch künftige Sonder- und andere Pädagogen ausgebildet, die somit schon früh Praxiserfahrungen sammeln und Ihre Berufsentscheidung ausreichend reflektieren können.

Man kann sich streiten, ob unter der gegenwärtigen Ausgestaltung von Schule allgemein, das Gymnasium der ideale Ort ist.

Denn wenn selbst Hochbegabte am Gymnasium als Ausnahmen gemobbt werden, zeigt dies ein Problem auf, dem man begegnen muss. Oder die verbreitete stark theorielastige Frontal-Unterrichtung fördert eher Bulimie-Lernen als kreatives, selbstaktives Arbeiten. Aber beides bietet ja geradezu den Anlass, Änderungen vorzunehmen, die einem besseren Lernklima für alle Schüler dienen und damit auch die Unterrichtung individueller Lernwege gut möglich machen.

Bei der differenzierten Darstellung von Gelingens-Bedingungen und Herausforderungen bei der Umsetzung von schulischer Inklusion kommt den Medien entscheidende Verantwortung zu. Denn ein aufgeklärter, kritischer Journalismus würde die breite Bevölkerung in die Lage versetzen, das „Konzept der Inklusion“ zunächst zu verstehen, bevor sie beim Sonntagsfrühstück per Daumen hoch oder ‚runter abstimmt.

Selbst der zitierte „Pädagoge und Publizist Michael Felten“ hatte spätestens auf der diesjährigen Didacta in Hannover die Möglichkeit, sich über positive Praxis-Erfahrungen mit Inklusion am Gymnasium aus erster Hand zu informieren. Es fragt sich, welche Gründe ihn bewegen, weiter zu behaupten, man könne an Gymnasien keine Inklusion umsetzen. Zu behaupten, „Schüler mit Behinderungen bräuchten exklusive Lerngruppen“, würde bedeuten, Schüler mit Handicaps könnten von den intelligenten Gymnasiasten nicht profitieren; diese wären nicht in der Lage, komplizierte Zusammenhänge einfach zu erklären oder in Gruppenarbeit auch eine Aufgabe für das Kind mit Lernschwierigkeiten zu finden, mit dem es einen Beitrag zum gemeinsamen Gelingen leisten kann. Das würde – übertragen auf Geschwisterkinder – bedeuten, dass jüngere Geschwister besser und schneller lernen, wenn sie ausschließlich mit Gleichaltrigen zusammen sind, auf keinen Fall von ihren älteren, schon reiferen Geschwistern.

Und um letztendlich auf den oft zitierten Begabungs-Diskurs einzugehen – allein die Anzahl der Gymnasien zeigt, dass das Abitur mittlerweile Mainstream ist. Auch ist nicht wirklich erkennbar, wo der Unterschied liegen soll, zwischen einem Super-Real- oder Gesamtschüler und einem „schlechten“ Gymnasiasten. Also es bestehen eindeutig Abgrenzungsprobleme, die in der Regel durch den sozialen Background der Schüler „überwunden“ werden, also von gleichberechtigten Lernchancen ist wohl kaum zu reden.

Gut informiert ergibt sich eigentlich schlussendlich nur eine Frage: Warum gerade am Gymnasium keine Inklusion?