Inklusion: Eltern kritisieren Mißachtung der UN-Behindertenrechtskonvention

Deutsches Institut für Menschenrechte bereitet Bericht an die Bundesregierung vor

Elternverbände haben in der vergangenen Woche dem Deutschen Institut für Menschenrechte berichtet, inwieweit das Recht auf inklusive Bildung für Kinder und Jugendliche mit Behinderung (Art.24 UN-Behindertenrechtskonvention) in Deutschland umgesetzt wird.
Kirsten Ehrhardt* von der LAG Baden-Württemberg GL GL bringt die Situation mit ihrem beigefügten Redebeitrag auf den Punkt.

Auch der die Inklusiven e. V., Interessenvertretung von Eltern und Kindern in Bielefeld und Umgebung, kann die Wahrnehmung von Frau Ehrhardt bestätigen.

„Wir haben zwar in NRW bzw. OWL längst nicht die beschriebenen bayrischen bzw. baden-württembergischen Zustände, in denen aus Sonderschulen ausgelagerte Klassen das Siegel ‚Inklusion‘ erhalten“ erklärt Romy Suhr, Vorsitzende des Vereins. „Aber auch hier vor Ort ist die Beliebigkeit des Begriffs Inklusion zu beobachten.“

„Inklusion“ in der Schule findet in der Regel „Differenzierungsraum“ statt, wo der „Integrations-“Helfer mit seinem Schüler allein arbeitet, wenn er nicht gerade mit ihm allein in der Pause spielt. Wenn dieser dann krank ist, muss das Kind von den Eltern abgeholt werden oder darf erst gar nicht zur Schule kommen, weil die Lehrer bis dato zu dem Kind keine Beziehung aufbauen konnten. So gibt es viele Beispiele einer Praxis, die den Sinn von „inklusiver Bildung“ auf den Kopf bzw. Entstellt.


Längst müsste in den Schulen an einer veränderten Lern- und Umgangskultur gearbeitet werden, die Team Strukturen und Wertschätzung in den Mittelpunkt stellt. Eine Kultur, die unterschiedliche Lernwege anerkennt und die Befähigung – statt Defizit-Festschreibung – aller Lernenden zum Ziel hat. Ohne dieses Fundament bleiben differenzierte Arbeitsblätter, Kooperationsspiele oder eine Couch zum Ausruhen für die Förderkinder nur Alibi-Maßnahmen."

* Kirsten Ehrhardt ist die Mutter von Henri, einem Jungen mit Down-Syndrom, der 2014 zusammen mit seiner Grundschulklasse an das örtliche Gymnasium wechseln wollte. Die Familie hatte mediale Aufmerksamkeit erregt, weil es zu diesem Zeitpunkt in der öffentlich noch weitgehend unbekannt war, dass auch Gymnasien den mit der deutschen Ratifizierung der UN-BRK angenommenen Auftrag haben, Teil eines hochwertigen, inklusiven Bildungssystems zu werden.

Mündlicher Vortrag von Kirsten Erhard
INKLUSION UND ARTIKEL 24 – EINE (EHER ERNÜCHTERNDE) BILANZ
Die Monitoring Stelle des Instituts für Menschenrechte hatte zu einer Anhörung nach Berlin gebeten – und auch unsere Projektleiterin Kirsten Ehrhardt war dieser Aufforderung gefolgt. Sie trug dort den Umsetzungsstand der UN-Behindertenrechtskonvention bezogen auf Art. 24 UN-BRK (Bildung) aus Sicht des Bundesnetzwerkes von „Gemeinsam leben – gemeinsam lernen“ vor. In ihre Einschätzungen sind auch viele Zwischenergebnisse unseres Inklusionsbobachtungs- und begleitungsprojektes mit eingeflossen. Kirsten Ehrhardts engagierten Vortrag in Berlin können Sie hier nachlesen:

Lieber Herr Aichele, liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Monitoring Stelle, sehr geehrte Damen und Herren,

Die Umsetzung des Artikels 24 der UN-BRK: Inklusion im Bildungssystem – neben unseren ausführlichen Darstellungen in den Länderberichten, die der Monitoring Stelle schriftlich vorliegen, hier ein paar Anmerkungen, die – trotz Föderalismus – für ganz Deutschland gelten.

5 kurze Anmerkungen.

1. Inklusion ist disponibel.

Inklusion kann man nach Belieben „aussetzen“, macht, kann mal eine „Pause“ machen, man kann „das Tempo herausnehmen“ – das ist die politische Stimmung im Land. Und alle, die sagen: Nein, das kann man nicht, weil es um ein Menschenrecht geht, haben eben einfach eine andere Meinung. „Trumpisierung“ würde ich das nennen: Auch die UN-BRK ist für viele Bildungsverantwortliche in Deutschland nur noch eine unverbindliche Meinungsäußerung einer unbedeutenden internationalen Organisation.

2. Inklusion ist gar nicht nötig.

Viele Jahre nur selten gehört, inzwischen offenbar wieder hoffähig: Die Ansicht, die UN-BRK gelte gar nicht für Deutschland, vor allem nicht im Bildungsbereich, sondern nur für sog. „Schwellenländer“ und solle j lediglich nur verhindern, dass die Behinderten nicht hinter irgendeiner Hütte angekettet werden. Moderne Sonderschulen habe die UN nie gemeint. Und deshalb gebe es einfach keinen Handlungsbedarf. Und zwar gar keinen.

3. Inklusion ist beliebig begrenzbar.

Inklusion, so ist von der bisherigen Vorsitzenden der Kultusministerkonferenz Susanne Eisenmann zu lesen, sei nur etwas für Schüler, die „sozial und leistungsmäßig mitkommen“. Dass sie damit den Begriff ad absurdum führt, stört sie nicht. Behinderte dürfen natürlich überall dabei sein, sie müssen aber weiter „inklusionstauglich“ in deutschen Schulen sein – wichtig ist also: dass die nicht stören, dass sie nett sind, dass sie unauffällig sind und dass sie vor allem eins sind: unglaublich dankbar, dass sie „dabei sein dürfen“. Das gilt übrigens auch für ihre Eltern, diese fordernden Inklusions-Radikalinskies.

4. Inklusion ist beliebig füllbar.

Sie glauben gar nicht, wie viele inklusive Schulen gerade in Deutschland entstehen: Die ausgelagerte Sonderschulklasse heißt inzwischen „Inklusionsklasse“. Der Neubau der Sonderschule, jetzt mitten im Ort und nicht mehr neben der Kläranlage, ist ein wichtiger Schritt zur Inklusion. Und die Sonderschulklasse macht schon dadurch inklusiven Unterricht, indem sie in einem öffentlichen Schwimmbad schwimmt. Sind wir nicht alle ein bisschen inklusiv? Der Etikettenschwindel ist inzwischen immer und überall. Inklusion längst eine Leerformel, ein missbrauchter Begriff. Man sagt: „Im Krieg stirbt als Erstes die Wahrheit.“ Die Wahrheit über Inklusion ist längst mausetot.

5. Inklusion in der Schule – Das Sorgenfalten Thema.

„Inklusion wird in weiten Teilen Deutschlands nur noch problematisch dargestellt, von den Medien gerne aufgegriffen. Denn so funktionieren Medien: Das ‚Scheitern‘, die Krise“, die Lehrerin P aus L am Rand des Nervenzusammenbruchs verkaufen sich immer besser als jede Erfolgsgeschichte. Vor allem bei Inklusion, deren Erfolge auf leisen Sohlen kommen und irgendwie sehr alltäglich, und gerade deshalb so schön sind. Wer schulische Inklusion eigentlich konstruktiv kritisieren müsste, um sie voranzubringen, mag seine Anmerkungen öffentlich gar nicht mehr vortragen. Denn jede Kritik ist Wasser auf den Mühlen der Gegner. Und vor allem schreckt sie Eltern ab. Und das soll sie ja auch, um am Ende wieder betonen zu können, dass die meisten Eltern in Deutschland ja immer noch die Sonderschule für ihr Kind wählen.

Und so sag ich das alles hier in der Verbände Anhörung – und draußen halte ich inzwischen öfter meinen Mund, als es eigentlich gut wäre.

Kirsten Ehrhardt
LAG Baden-Württemberg „Gemeinsam leben – gemeinsam lernen“ e. V. 27.2.2018