Corona: Zwischen Online-Impro-Theater und Schulbegleiter-Drama

Für unsere Familie persönlich ist es momentan, trotz vieler Aufgaben, wie Zur-Ruhe-Kommen.
Seit genau einem Jahr leben wir in 2 Bundesländern und pendeln, damit unser Sohn weiter auf eine inklusive Schule gehen kann. Wir sichern ihm damit – wie es unsere Pflicht als Eltern ist – sein Recht auf inklusive Bildung gemäß der UN-Behindertenrechtskonvention (seit 2009 in Dtl. gültig)

Das Homeschooling ermöglicht uns, als Familie wieder zusammen in Bielefeld zu wohnen.
In dieser Stadt war man nicht bereit, für unseren Sohn einen Ersatzplatz im Gemeinsamen Lernen zur Verfügung zu stellen, als ihn das Gymnasium seinerzeit offenbar loswerden wollte (mit einer Zwangsüberweisung zur Förderschule für Verhaltensauffällige). Da er ein sozialer und wissbegieriger Junge ist, können wir uns das Verhalten diverser Beteiligter nicht erklären; das wird derzeit über den Gerichts- und Petitionsweg geklärt.

Natürlich bleiben für uns doppelte Kosten für 2 Wohnsitze. Die Stadt Bielefeld besteht zudem, trotz ihres widerrechtlichen Verhaltens, auf der Zweitwohnsteuer. Auch der Rundfunkbeitrag muss in unserem Fall doppelt bezahlt werden, weil davon ausgegangen wird, dass Verheiratet sein etwas am Nutzungsverhalten ändert.

Aber das sind nur die kleinen, „normalen“ Ungerechtigkeiten.
Eine der größeren Beeinträchtigungen war, dass unserem Sohn jahrelang ein OGS-Platz an der Grundschule verwehrt wurde; eine andere Schule mit freien Plätzen durfte ihn nicht aufnehmen. Immerzu haben Schulen geradezu nach Defiziten gesucht; wir haben so gut wie nie Positives gehört. Das ganze Gegenteil erlebten wir zum Glück mit außerschulischen Fachleuten und Freizeitangeboten. So etwas hat natürlich (soziale) Folgen. Ich bewundere meinen Sohn, wie er das Negative aus seinem Bewusstsein verdrängen kann und seine unvoreingenommene positive Haltung bewahrt. Trotzdem ist das ganze Gezerre um ihn offenbar nicht spurlos an ihm vorbeigegangen; er begann in der Sek1, sich die Haare auszuziehen. 

Für ihn ist es toll, dass er jetzt wieder bei seinem „alten“ Stammtheater mitmachen kann –  in Form von Online-Impro-Theater. Er war dadurch eher mit Zoom & Co. vertraut als wir Eltern.
Und uns freut es, Menschen zu erleben, die derzeit Wege suchen, um die Hürden der Kontakteinschränkungen zu überwinden, die den Kindern Interaktionsmöglichkeiten schaffen, ihnen Brücken bauen. (siehe auch NW-Artikel über eine Lehrerin an der Südschule).

Interessanterweise sind das in erster Linie auch diejenigen, die schon vor der Pandemie Möglichkeiten und Wege gesucht haben.
Mein Eindruck ist, dass Schulen, die sich schon länger mit Umsetzung inklusiver Pädagogik beschäftigen, aktuell besser für die Krise gerüstet sind. Sie sind geübt in Flexibilität, Teamarbeit und Improvisation. Sie haben einen geschulten Blick für die Ressourcen von Kindern entwickelt, haben ihre Strukturen auf ein Miteinander und Gemeinschaft (auch mit Eltern) hin ausgerichtet und sind in der Lage, in unbekannten Situationen Lösungen auch „ohne Anweisung von oben“ zu finden.

Vor 2 ½ Jahren habe ich zusammen mit anderen Eltern den Elternverein die Inklusiven e.V. gegründet. In diesem Rahmen beschäftigt uns derzeit besonders die Willkür in Bezug auf die Finanzierung der Schulbegleitungen für Kinder mit Behinderung während der Zeit des Homeschooolings.

In Bielefeld wird nach Wochen der Untätigkeit die Hälfte der bisher bewilligten Arbeitszeit der Schulbegleiter bezahlt. Auch wenn das ein Fortschritt ist, verglichen mit manch anderer Kommune in OWL oder auf Landesebene, ist diese Reduzierung willkürlich. Sie entspricht nicht den Hürden, die manche Kinder aktuell für ihre Teilhabe an Bildung zu überwinden haben.
Auch hätten wir nach der langen Funkstille von Stadt und Sozialdienstleistern, bei denen die Schulbegleiter angestellt sind, erwartet, dass mit flexiblen Lösungen aktiv auf die Familien zugegangen wird.
Wenn haushaltsnahe Assistenten z.B. über das Persönliche Budget ersatzweise (statt der mit Arbeitsverbot belegten regulären) eingesetzt werden, kann dem Infektionsschutz – der Kinder, wohlgemerkt, nicht der scheinbar ängstlichen Schulbegleiter – wunderbar Rechnung getragen werden.
Zudem hat die Stadt viel Erfahrung mit dem Persönlichen Budget; sie war Modellregion in NRW bei seiner Einführung in den Jahren 2004-2006. Angesichts dieses Kompetenzvorsprungs fragt sich, warum die Kinder und Familien einfach mit der billigen Ausrede „Infektionsschutz“ wochenlang allein gelassen wurden.
Wenn ein Sozialdezernent nicht allein auf hilfreiche Ideen kommt, warum fragt er nicht diejenigen, die es betrifft? Das Geld für die gesamte bewilligte Zeit steht den anspruchsberechtigten Kindern zur Teilhabe an Bildung laut Sozialgesetzgebung zu! Das behält die Stadt jetzt einfach ein?
Wir erwarten ein klares Bekenntnis, dass diese im Haushalt eingeplanten Mittel entweder den Eltern  gut geschrieben oder alternativ in einen Fond für inklusionsbefördernde Maßnahmen fließen.

Wenn die nicht abschließend geregelte Frage der Assistenz im Homeschooling schon innerhalb eines Bundeslandes ein Flickenteppich ist, so tun sich über Bundeslandgrenzen hinweg noch mehr Fragezeichen auf: Wenn beispielsweise die zuständige Schule und der Aufenthaltsort des Kindes in der Fernbeschulung, wie in unserem Fall, zwei verschiedene sind, welches Bundesland ist zuständig? Wenn es bei uns möglich war, dann ist dies immerhin eine denkbare Konstellation, die klarer Vorgaben bedarf.

Aber nicht nur in dieser Beziehung werden Kinder mit Förderbedarf einfach vergessen u/o ignoriert.
Die Strukturen des Schulwesens, innerhalb der Bundesländer und zwischen ihnen, sind so unübersichtlich geworden, dass es der Kultusministerkonferenz anscheinend unmöglich ist, alle Beteiligten präsent zu haben, die von ihren Entscheidungen betroffen sind.

Auch vermissen wir in der aktuellen Debatte um Schulöffnungen wegweisende, inklusive Antworten vom Berufsstand der (Sonder-)Pädagogen für die Fern- und ggf. Präsenzbeschulung, unter Berücksichtigung des Infektionsschutzes.
Nach Rückmeldungen der Eltern zu urteilen, in welchem Umfang bzw. in welcher Qualität Kinder mit Förderbedarf vielerorts einbezogen und didaktisch betreut werden, haben viele Pädagogen jetzt endlich Zeit, Ideen zu entwickeln und lang gehegte Visionen umzusetzen – z.B. auch unter Einbeziehung außerschulischer Lernorte. 

Unser persönlicher, viel genutzter außerschulischer Lernort war und ist der Küchentisch – aktuell Austragungsort einer von unserem Sohn ausgerufenen Ligretto-WM.
Hier geht es um ein ziemlich nervenaufreibendes, schnelles Kartenspiel, das wohl genau deshalb nie langweilig wird. Aber – wie mir neulich auffiel – ist es nicht nur für Ablenkung und Abschalten gut.
Es bildet ziemlich treffend eine krisenfeste, zukunftsfähige Sicht auf das Leben ab: Man beginnt im Leben - wie im Spiel - mit Startchancen, die der Zufall bestimmt. Alles Weitere ist ein bisschen Ergreifen von Gelegenheiten, manchmal Schnelligkeit und Nerven behalten, trainierbare Skills, also. Und natürlich kann man -wie im Leben- Schwächen kompensieren, z.B. geringe Schnelligkeit durch mehr Aufmerksamkeit oder durch mehr Intuition.
Zu großen Teilen aber hängt der Spielverlauf von Glück ab und: von dem, was meine Mitspieler beitragen. Wer auch immer am Ende gewinnt, konnte dies nur durch den Beitrag der Anderen.

Romy Suhr (Vorsitzende des Elternvereins die Inklusiven e.V. Bielefeld/ OWL)